Eine Geschichte für Alle, die ein Zuhause haben

Eine Geschichte für Alle, die ein Zuhause haben

Diese Geschichte stammt von Kirill. Er ist der Fahrer der „sozialen- und medizinischen Obdachlosenhilfe” in Omsk, und teilt jeden Tag am Bahnhof kostenlos Essen für Obdachlose aus.

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„Es ist nicht einfach sich mit den Obdachlosen, die zu uns kommen zu unterhalten, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie von sich und ihren Sorgen und Nöten erzählen zu lassen. Erst reden sie gar nicht, dann erzählen sie dir eine Geschichte, nächstes Mal eine neue, bringen viel durcheinander, es wirkt sehr verworren, doch irgendwann teilen sie mit dir ihre wahre Lebensgeschichte, irgendwann fügt sich alles wie ein Puzzel zusammen.

Alexander

„Warum ich mich dazu entschieden habe, euch Alles zu erzählen? In meinem Leben konnte ich mich nie öffnen, konnte meine wahren Gedanken und Gefühle nicht teilen. Die Menschen die mich umgeben, haben selbst große Probleme, sind überfordert, vom Leben erschöpft, so dass ich sie nicht mit fremden Kummer belasten kann. Aber ihr lebt auf der anderen Seite, euer Leben wirkt wie in der Werbung, ohne ernsthafte Sorgen, für Euch ist meine Geschichte nur Unterhaltung, eine der vielen Geschichten, die man so hört. Deshalb erzähle ich euch nun meine wahre Geschichte, ohne Lügen, ohne Ausschmückungen, damit ihr seht, wie das Leben jenseits der Werbung aussieht, damit ihr seht, wie schnell man verlernen kann, zu lächeln. Die erste begriffliche Erinnerung meines Lebens, ist die Hand meiner Mutter, das Gelächter meiner jüngeren Schwester und der Geruch von Maschinenöl in unserem kleinen Haus. Es war der Geruch meines Vaters, der in einer Autowerkstadt arbeitete. Die Mutter kocht mir und meiner Schwester morgens Brei, auf der Fensterbank schlummert unser grauer, flauschiger Kater und ich blinzel der Sonne entgegen. Dann noch eine Erinnerung: Wir sitzen mit der ganzen Familie in einem Zugabteil und ich höre das erste Mal den Namen einer mir noch unbekannten Stadt: „Omsk”. Tuk Tuk Tuk, der gleichmäßige Rhythmus des Zuges, ich albere mit meiner Schwester herum. Meine Mutter rügt uns und bittet den Vater uns zur Ordnung zu bringen. Tuk Tuk Tuk…. Später sind die Ärzte im Zug, meiner Mutter geht es schlecht, mein Vater ist über sie gebeugt, seine Hände zittern, er stammelt etwas von einem Schlaganfall, ich verstehe es nicht. Die besorgten Ärzte tragen meine Mutter weg. Ich stehe mit meiner Schwester am Bahnhof und schaue auf die riesige Uhr. Damit ist es vorbei, weitere Erinnerungen mit meiner Mutter sollte es nicht mehr geben. Keine Einzigen, nie wieder. Alles was ich noch von ihr weiß, habe ich euch erzählt. Ich denke wenn es wirklich einen Gott gibt, wird er mir gestatten, meine Mutter noch einmal besser kennenzulernen. In der Zwischenzeit wird meine Mutter beerdigt und über dem weinenden Vater braut sich Unwetter zusammen.

Foto: www.pobedpix.com

Omsk, Omsk, Omsk, warum hast du uns in diese ungemütliche, große sibirische Stadt gebracht? Der Vater fing bald damit an, den Kummer im Vodka zu ertränken, wir lebten in einem winzigen, verdreckten Zimmer, es war unerträglich. Eines Morgens wachten wir auf und fanden unseren Vater erhängt. Ich verurteile ihn nicht dafür, in so einer Situation hätten Viele aufgegeben. Ich glaube auch, dass Gott ihn nicht verurteilt, obwohl Selbstmord ja eine Sünde ist. Vielleicht tadelt er ihn ein bisschen. Nach der Beerdigung, bringen sie mich und meine Schwester in ein Waisenhaus. Der erste Eindruck: Ein langer, grauer Kerker. Aber nachdem wir einen warmen Brei und einen Stundenplan bekommen haben, hatten wir wenigstens das Gefühl irgendwo untergekommen zu sein, zu leben. Es scheint so, als könnte es nicht schlimmer werden. Alles was passieren konnte, ist schon passiert, aber jetzt weiß ich, wie falsch die Behauptung ist, das Kind könne nur einmal in den Brunnen fallen. Denn in diesem Fall ist es nicht nur einmal, nicht nur zweimal, sondern dreimal gefallen. Nach dem Tod der Mutter, dem Tod des Vaters, wartete noch ein Schicksalsschlag auf mich: Der Tod meiner Schwester. Eines Tages war sie einfach nicht mehr da. Seltsam, aber ich erinnere mich absolut nicht mehr an ihre Beerdigung. Ich glaube, dass das Kinderheim sie gebrochen hat und es brach auch mich. Ein Kind aus einer einst glücklichen, heilen, gütigen Familie. Alles Gute, was mir meine Eltern mitgegeben haben, ihre ganze Liebe und Fürsorge, wurden erfolgreich ausgerottet, meine schwachen Proteste dagegen unterdrückt. Ich passte mich an, wurde zum Mitgänger, ließ mich von den Älteren zu den verschiedensten Dingen anstiften.

So passierte es, an diesem einen, schicksalshaften Tag. Ich erinnere mich, wie ich mich heimlich zu dem Lebensmittelstand schlich. Das Ziel erreicht, fing ich an, alles was mir in die Hände viel, blindlings in mich hineinzustopfen. Mein Magen knurrte laut. Die Verkäuferin hörte meinen Magen, drehte sich um und fasste mich am Genick.

„Sascha! Lauf!”, riefen mir die anderen Kinder, die Beine in die Hände nehmend, zu. Ich wehrte mich, wie ich konnte, trat um mich, versuchte, sie zu beißen, aber sie hielt mich fest. Woher nahm sie diese Kraft, sie sah doch so klein und zierlich aus, aber was hatte sie für eine Stimme! Auf ihre Schreie hin, kamen auch die anderen Verkäufer hinzu, und dann auch die Wache. Wurden Sie schon mal wegen Hunger verhaftet?

Nun, ich saß mit 14 Jahren, drei Jahre lang meinen Hunger ab. Die ganze diebische Romantik, die heroische Aufsässigkeit, von der ich im Kinderheim träumte, war mit einem Schlag vorbei. Denn im Lager gibt es nur die harte Wirklichkeit, ohne romantischen Anstrich. Aus der Haft entlassen, hatte ich keinen Ort zu leben. Ich habe Geschichten von den Obdachlosen gehört, die im Bahnhofbereich, auf den Heizrohren leben oder wenn sie Glück haben in Kanalisationsschächten, wo es wärmer ist. Ich habe einen Platz an einem der Heizungsrohre gefunden. Doch es war trotzdem kalt, die ganze Zeit, und um die Kälte zu vergessen, fing ich an zu trinken. Einmal schlief ich auf einem der heißen Rohre ein. Als ich aufwachte, war die eine Hälfte meines Körpers verbrannt, die andere erfroren. Nach einiger Zeit fand ich einen Platz in einer der verlassenden Holzbaracken. Doch die dünnen Wände schützten auch nicht vor der bitteren Kälte. Tja, so lebte ich. Eines Tages wachte ich ein einem Krankenhausflur auf, wie ich dort hinkam, weiß ich bis heute nicht. Ohne nachzudenken, sprang ich auf, schrie vor Schmerzen und fiel auf meine bandagierten, ungewöhnlich kurzen Beine.

„Leiser” „Leiser”, flüsterte die Krankenschwester, Sie wecken noch alle auf.

„Meine Beine! Was ist mit meinen Beinen?, ich konnte nicht aufhören zu schreien.”

„Sie nahmen die Hälfte Ihres einen Fußes und alle Zehen des anderen ab, viel konnte nicht gerettet werden, Sie kamen ziemlich spät.”

„Später hörte ich den Arzt mit der Krankenschwester tuscheln.”

„Bereiten Sie seine Entlassung vor”

„Sie lassen ihn so  gehen, die Fäden sind doch nicht gezogen?”

„Ja, verstehen Sie, er könnte die anderen Patienten anstecken. Leute wie er haben alle möglichen Infektionen: Streptokokken, Staphylokokken, Pseudomonas aeruginosas.”

„Ja, sie haben mich wie einen obdachlosen Hund auf die Straße gesetzt. Haben hinter mir die Tür zugeschlagen und damit war die Sache für sie vorbei. Ich hatte aber keinen Ort, an den ich gehen könnte, auf mich wartete niemand, ich war einsam, allein. Auch Menschen, die ein Zuhause haben, klagen über Einsamkeit. Doch ist es eine andere Einsamkeit, ist es vielleicht das Gefühl, dass sich die Freunde und Familie sich nicht für einen interessieren.

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Ich hatte aber weder das Eine, noch das Andere. Meine Beine taten unglaublich weh, doch ich schaffte es kriechend bis zum Bahnhof. Dort haben mich die Leute zum Krankendienst der Caritas gebracht, der jeden Tag mit dem Wagen zum Bahnhof kommt. Die Krankenschwester versorgte meine Wunden und zog die Fäden. Für diese Hilfe ein tief empfundenes Dankeschön. Hier bekomme ich nun mein Mittagessen. Zum Weinen habe ich keine Zeit, man muss immer in Bewegung sein, ich suchte wie früher Arbeit, doch als Behinderter, findet man keine Arbeit, man wird nicht benötigt.”

Ein Monat ist seit diesem Gespräch vergangen. Und schon seit einigen Wochen ist Sascha nicht zum Mittagessen gekommen. Kirill fing an, nachzuforschen und fand heraus, dass Sascha nun bei einer Familie untergekommen ist, die früher auch an den Heizungsrohren lebte. Sie haben ihn vorrübergehend aufgenommen. Wir haben mit ihm Kontakt aufgenommen und angefangen, seinen Pass zu erneuern, die Behindertenrente zu beantragen, einen Antrag auf einen Wohnplatz zu stellen, dem jedem ehemaligen Kind aus dem Kinderheim garantiert ist, um damit einen neuen Weg zu gehen. Es wird ein langer und schwieriger Weg, aber Sascha hat ihn begonnen und nun erhält er Unterstützung! Los Sascha, möge Dir alles gelingen!

Liebe Freunde liebe Spender!

Wenn Sie die Arbeit der Caritas in Westsibirien unterstuetzen wollen koennen sie die Bankverbindung des befreundeten Fondes in Deutschland benutzen.

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