Der Gürtel

In unserer Kindheit rauften sich meine Schwester und ich häufig so stark, dass die Fetzten flogen. Wegen jeder Kleinigkeit stritten wir uns. Ich war die Ältere und sie nervte mich furchtbar und andersherum nahm sie es mit Sicherheit genauso wahr. In solchen Momenten kam meine Mutter ins Zimmer mit einem grünen Gummiriemen in der Hand, so einer aus den alten sowjetischen Waschmaschinen. Dann, wissend, welche Strafe auf uns wartet, zur Tür schafften wir es nicht mehr, da uns die Mutter ja den Weg versperrte, kauerten wir uns beide unter die Bettdecke, wissend, dass die Schläge mit dem Gummiriemen so durch das weiche Bett abgefedert wurden und weniger schmerzten. Mama schlug sofort beide, ihr war es egal, wer angefangen hat, wer schuldig war und wer nicht. Manchmal gelang es uns jedoch aus dem Zimmer zu entkommen und schlossen uns in der Toilette ein, bis sich unsere Mutter beruhigt hat. Sie war Schichtarbeiterin. Einen Tag und eine Nacht, dann war sie zwei Tage Zuhause und dann wieder einen Tag und eine Nacht. Wenn sie nach Hause kam, ging sie gleich auf die Datscha, um sich um den Gemüsegarten zu kümmern und nahm uns immer mit. Unser Vater war so gut wie nie zu Hause. Er war die meiste Zeit auf Dienstreisen und so war Mama furchtbar erschöpft. Schon im Alter von drei Jahren konnte meine Schwester den Gasherd putzen und ich sollte ihr alles Weitere beibringen. Jeden Tag putzten wir gemeinsam die Drei-Zimmerwohnung, die Zimmer waren groß und der Staub der Straße fand ständig seinen Weg ins Haus, aber wir legten uns nicht eher schlafen, bis alles glänzte und blitzte, unsere Mutter sollte sich freuen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und auf dem Herd das Abendessen vorfinden. Zu dieser Zeit befand ich mich mitten in der Pubertät, benahm mich furchtbar, rebellierte, führte alle vor, konnte nicht aufhören zu ärgern.

Ich erinnere mich, wie ich einmal mit einer Freundin auf den Aufzug wartete und zu uns ein betrunkener Nachbar kam, der vor einigen Tagen auf der Treppe stürzte und deswegen auf Krücken lief.

„Funktioniert der Lift?” fragte er. Ich und Julia wechselten vielsagende Blicke. Wie kann man denn das Rasseln des Liftes überhören? Auch wollten wir nicht mit ihm den Aufzug teilen, ging von ihm doch ein Geruch aus, dass wir uns die Nasen zuhielten.

„Nein, er ist kaputt”, antworten wir wie aus einem Munde und huschten schnell in den gerade ankommenden Lift und schlossen sofort die Türen.

Am Morgen kam der Nachbar zu uns und beschwerte sich bei meiner Mutter, dass er mit seinem gebrochenen Bein neun Stockwerke zu Fuß hochlaufen musste, dabei hätte er doch den Lift nutzen können, so sah er doch, dass er funktionierte. Auch meiner Mutter erschien es lächerlich und sie schlug mich nicht als Strafe für mein freches Benehmen.

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich die endlosen Putztage vor Augen, wie meine Mutter mit dem Riemen hinter uns herläuft und Strafen verteilt. Natürlich gab es auch gute Tage, an denen sie Kuchen und Torten für uns buk, Kleider nach den Mustern aus der Zeitschrift „Ich werde modisch” nähte. Doch immer wenn ich gerade putzte, Wäsche wusch und den Boden schrubbte, wusste ich, dass ich in meiner Familie alles anders machen werde. Ich würde meine Kinder lieben, sie nicht schelten, nicht schlagen, nicht anschreien.

Doch als ich meine Familie gründete, mit meinen zwei Kindern, wurde ich zum genauen Spiegelbild meiner Mutter. Und wer hätte es gedacht, meine Mutter wurde zu der idealen Großmutter.

„So darfst du die Kinder nicht behandeln, sonst wirst du im Alter alles zurückbekommen.”, rät sie mir ins Gewissen.

Ihre Enkel sind ihr Ein und Alles. Zu sagen, sie sei bloß in sie vernarrt, trifft es nicht.

„Bei der Großmutter soll es ruhig, sorgenfrei, einfach und lecker sein”, lächelt sie.

Doch mich und meine Schwester kontrolliert sie weiterhin, obwohl wir alle getrennt voneinander leben. Sie kontrolliert, wo wir sind, was wir machen, mit wem wir unsere Zeit verbringen, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir sie behandeln und und und

Ich habe mich oft gefragt, was ich für eine Mama bin: Hart, nein nicht hart, anspruchsvoll trifft es wahrscheinlich, manchmal rutscht mir die Hand aus, dann kann ich sie aber auch umarmen, sie küssen, kann ihnen sagen, dass ich sie liebe, gewähre ihnen Freiheit, kontrolliere sie nicht vollständig. Wie meine ältere Tochter sagt: „Du bist schön, streng, aber fair”

Vor einiger Zeit wurde ich auf ein Treffen der Partner der Caritas Omsk zu dem Thema  „Das Gespräch mit dem Kind – der Gürtel”, Prophylaxe der Gewalt in Familien eingeladen. Das Treffen wurde vom Kinderklub  „Land der Freude” organisiert, die Veranstaltung war nicht klein, es waren 30 Leute anwesend. Es waren Vertreter der Stadtverwaltung, der verschiedenen sozialen Einrichtungen, der Polizeiabteilung für minderjährige Straftäter, Mitarbeiter des Kinderfonds, der Imam der Kathedralsmoschee, Juristen und Mitarbeiter der verschiedenen christlichen Kirchen eingeladen.

1

Das Ziel des Runden Tisches war die Festigung der Zusammenarbeit zwischen den interessierten Organisationen, der Austausch von Informationen und die Koordination von Lösungswegen im Bezug auf familiäre Konflikte und tiefgreifende Probleme, sowie die Einweisung in die komplexe Hilfe für Kinder.

2

Dieses Thema hat mich sehr interessiert. Ich habe mich gefragt, ob es Eltern gibt, die noch nie die Hand gegen ihre Kinder erhoben haben und wie sie dann ihre Kinder erziehen. Also fragte ich:

„Also wie machen Sie es? Wie kann man sich zurückhalten, dass man nicht die Stimme oder die Hand erhebt? Einmal spang meine zweijährige Tochter beispielsweise mit einem vergnügten Kreischen von einem hohen Stuhl, um sich von mir auffangen zu lassen. Zuerst erklärte ich ihr, dass sie sich damit ernsthaft verletzen kann. Doch sie machte es wieder und diesmal schaffte ich es nicht sie aufzufangen. Sie schlägt mit dem Knie und mit dem Kopf auf, es kracht und ich fange vor Schrecken an sie anzuschreien und ihr eine zu verpassen. Ich habe mich so erschrocken, dass ihr ernsthaft etwas passiert sein könnte, obwohl ich es ihr mehrere Male verboten habe, dass sich die Angst um sie, in Wut umwandelte.”

„Es ist die Geduld, an der es Ihnen fehlt, antworten sie mir mit einem verständnisvollen Lächeln.”

„Woher soll ich denn Geduld nehmen, wenn man so ein aktives Kind hat, das sich in jeder Sekunde etwas Neues ausdenkt, das im ersten Moment, wenn du ihm den Rücken zuwendest etwas anstellst und auch wenn du denkst, dass nun nichts mehr passieren kann, sich irgendetwas Verrücktes in den Kopf setzt und es sogleich umsetzt.”

Wie erzählte Galina Nikolaiewna, die Leiterin des Kinderklubs?

„In 47 Familien, aus denen Kinder den Kinderklub besuchen, gibt es in 25 Familien Fälle von Gewalt. Häufig kommen Kinder mit blauen Flecken im Gesicht und auf dem Körper zum Kinderklub. Doch es kommt nicht nur physische, sondern auch psychische Gewalt vor. Diese Fälle sind jedoch ebenfalls sofort sichtbar, diese Kinder spielen für sich, sind verschlossen, erschrecken sich bei der zärtlichsten Anrede. Mit solchen Familien arbeiten unsere Pädagogen und Psychologen zusammen.”

3

Ich erinnere mich an das Gesicht meiner gerade bestraften Kinder, an ihre Haltung und ich begann mich schlecht und schuldig zu fühlen. Kinder die physisch oder psychisch hart bestraft werden, fühlen den Schmerz viel länger, als der Erwachsene mal eben eine Ohrfeige verteilt hat und er die Tat nach einigen Minuten schon vergessen hat. Um diesen Schmerz auf lange Sicht zu mildern und um eine Basis der Vertrautheit aufzubauen, helfen weder danach vergebene Küsse oder Geschenke.

Auf diesem Treffen habe ich mitgenommen, dass man, um eine gute Mutter zu sein, ein ausgewogenes Verhältnis von Strenge und Liebe finden muss, um dem Kind ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen, aber auch ein Gespür für Regeln und Benehmen zu vermitteln. So eine Vorgehensweise wird dem Kind helfen, zu lernen, selbstständig zu werden und konstruktiv Konflikte und Streitigkeiten beizulegen, um später unabhängig werden zu können. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass es etwas wie die „ideale Mutter” nicht gibt und man sich auch selbst bei einem Misserfolg oder einem Ausrutscher verzeiht und sich davon nicht abbringen lässt. Außerdem weiß ich jetzt, dass man sich bei Fragen oder wenn man in einer Situation gar nicht weiter weiß, immer an Freunde, Verwandte oder an die Fachkräfte wenden kann, denn gute Eltern werden nicht geboren, sondern werden es.

4

Liebe Freunde liebe Spender!

Wenn Sie die Arbeit der Caritas in Westsibirien unterstuetzen wollen koennen sie die Bankverbindung des befreundeten Fondes in Deutschland benutzen.

Unsere Partnerorganisation, die Armen-Schwestern vom hl. Franziskus, stellen Ihnen gern eine Spendenbescheinigung für das Finanzamt aus, wenn Sie auf der Überweisung Ihre vollständige Adresse angeben.


Spendenkonto

Name des Kontoinhabers: Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus Elisabethstraβe 19 52062 Aachen

IBAN: DE05 3706 0193 1008 2481 99

BIC: GENODED1PAX (Pax Bank)

Zahlungsziel: Sibirienhilfe