Heute erkrankte ich an Einsamkeit (Dina Rubina)

Ich höre gerne den Geschichten älterer Menschen über das Leben zu. Wenn sie über langjährige Erfahrungen sprechen, ersticken sie nicht an Gefühlen und Emotionen und fassen alles in einer einzigen Kette zusammen, wo es Ursachen und Wirkungen gibt und unerwartete Schicksalsschläge.

Viele ältere Menschen kommen in die Suppenküche. Zuerst beobachten sie alles ganz genau, dann öffnen sie ihre Seelen. Einige kommen wegen des warmen Essens, andere wegen der menschlichen Wärme und Aufmerksamkeit. Irina Michailowna kommt aus letzterem Grund…

-„Kupalinka, kupalinka, zemhaja notsch…meine Mutter sang dieses Lied, als ich klein war. Ich komme aus Weißrussland, aus der Region Wizebsk. Nunja und meine Mutter, wie sich herausstellte, war nicht meine leibliche. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr wusste ich nicht, dass ich ein Pflegekind war. Als ich einmal Milch holte traf ich unterwegs eine Nachbarin und diese erzählte mir „aus Herzensgüte“, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben sei. Mein Vater konnte seine Trauer nicht ertragen, verfiel dem Alkohol und starb im Delirium. Oh, was ich damals durchgemacht habe…Die Welt wurde auf den Kopf gestellt. Aber andere Eltern kannte ich nie. Mama Tanja, Papa Wanja, zwei ältere Schwestern Ganka und Sveta. Das ist meine Familie.

Aber bevor ich mich von diesem Schock erholen konnte, passierte ein weiterer. Meine Eltern kamen mit einem Pferdewagen vom Feld zurück. Und dann…es ist nicht bekannt, was für einen Geist das Pferd sah, aber es drehte so durch, dass der Wagen ausbrach und einen Baum traf. Meine Eltern überlebten diesen Unfall nicht.

Als nächstes kam das Waisenhaus. Dann eine Schule in Wizebsk, eine andere in Grodno. Ich lernte Rundfunktechnikerin. Dann wurde mir ein Job angeboten, dafür musste ich aber nach Tscheljabinks gehen. Ich hatte nichts zu verlieren. Meine Schwestern und ihre Familien gingen in andere Städte, begannen dort ihr Leben zu organisieren. Und ich wurde alleingelassen. Ich war 19 Jahre alt. Ich arbeitete in einer Fabrik, lebte in einem Wohnheim. Dann erschien eine Tante aus Estland und ich beschloss die Gelegenheit zu ergreifen in die weite Welt zu gehen. Doch die Sache ging schlecht aus. Ich kam bei meinen Verwandten an, doch sie empfingen mich nicht herzlich. Meine Tante wollte mir nicht bei meiner Anmeldung helfen, sie sagte: „Du wirst hier immer eine Fremde sein.“, und kaufte mir eine Rückfahrkarte.

Ich bin nach Tscheljabinsk zurückgekehrt. Es war bitter für mich-der Horror. Und dann entdeckte ich Valerie, der leitende Meister unseres Werks. Oh, wie er mich umworben hat! Und ich rümpfte die Nase. Nun, ich war jung, 20 Jahre alt. Aber er blieb hartnäckig und mochte mich: anständig, gutmütig, sorgte für mich. Er machte mir einen Antrag und einen Monat später heirateten wir. Da bot sich Arbeit in Nowosibirsk für uns beide an. Umzug, Geburt unseres Sohnes. Wir waren ein Herz und eine Seele-konnten nicht genug voneinander bekommen. Es scheint, als hätten wir die letzten 38 Jahre zusammen gelebt, wir  waren nicht mehr jung,. Wenn  er zur Arbeit ging, küsste er immer meinen Kopf – und zeigte seine Zärtlichkeit.

Und auf einmal wurde ich angerufen und man sagte mir, Valerie habe einen Herzinfarkt. Ich bin noch in meinen Hausschuhen aus dem Haus geeilt. Es war unheimlich. Ich wusste nicht mehr, wie ich weiterleben sollte. Und dann kam die nächste Tragödie. Zwei Jahre später starb mein Sohn auch an einem Herzinfarkt. Ein junger, starker Mann…Meine Schwägerin brach den Kontakt ab, sie hatten keine Kinder. Und so wurde ich ganz allein gelassen. Seit acht Jahren gibt es keinen Ehemann mehr, seit sechs Jahren keinen Sohn mehr. Und die Wunden sind noch immer frisch. Ich komme nach Hause und um mich herum nur Wände. Niemand, mit dem ich reden kann. Das ist ein langsamer Tod.

Es kam vor, dass ich wochenlang mit niemandem sprach, unter solchen Depressionen litt ich. Und dann sagte meine Nachbarin, dass sie in die Suppenküche ginge. Und ich sagte ihr: „Ich habe Essen. Aber mit wem ich esse, das ist eine ganz andere Sache!“.

Ich habe mich nicht lange geweigert. Ich habe gemerkt, dass ich irgendwie weiterleben musste. Ich komme manchmal für anderthalb Stunden her, hier kann ich reden, hier wird mir zugehört, hier kann ich lachen. Wir schauen uns Filme an, spielen, gehen zu Konzerten. So scheint das Leben nicht länger wie ein trister schwarzer Strich.“

Suppenküchen sind seit Langem in Omsk und Nowosibirsk Anziehungspunkte für einsame und bedürftige Menschen. Im Jahr 2018 haben wir 43.583 Portionen warmen Essens ausgegeben. Eine normale Portion besteht aus einer Suppe, einem zweiten Gericht und Gebäck. Die Kosten betragen 100 Rubel. Sorgfalt und Aufmerksamkeit in Zahlen auszudrücken ist weitaus schwieriger.

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